Wenn das Glück Angst macht: Warum wir manchmal das Gute nicht aushalten können
- Marina M.

- 24. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 12 Stunden
Heute möchte ich eine Erfahrung mit dir teilen, die mich zutiefst berührt hat. In einer Online-Yoga-Stunde bei der ich kürzlich teilnahm, fragte die Yogalehrerin zu Beginn in die Runde, wie es allen geht. Eine Teilnehmerin antwortete etwas, das mich nicht mehr loslässt: "Mir geht es nicht gut, weil so viele schöne Sachen gerade passieren."
Diese Aussage machte mich nachdenklich. Die Frau erklärte, dass sie das Gute in ihrem Leben nicht aushalten könne. Als Beispiel nannte sie ihre Kolleginnen, die unglaublich nett und unterstützend sind. Doch anstatt sich darüber zu freuen, löst diese Freundlichkeit in ihr Widerstand und Misstrauen aus. Sie erwartet ständig, dass ihre Kolleginnen Hintergedanken haben und etwas Schlimmes passieren wird. Die Folge: Sie freut sich nicht auf die Arbeit, obwohl es dort eigentlich gut läuft.

Die Angst vor dem Guten in meinem eigenen Leben
Diese Offenbarung berührte mich so tief, weil ich ähnliche Muster in meinem eigenen Leben erkenne. Wenn ich im Urlaub an einem wunderschönen Ort bin, beschleicht mich oft das Gefühl, dass ich dieses Glück nicht verdient habe. Ich fühle mich schuldig, diese Erfahrung zu genießen, und denke, dass ich sie mit anderen nicht teilen darf.
Besonders intensiv spüre ich diese Angst, wenn ich an meine Zukunft denke. Die Vorstellung, dass mein Leben schön, erfüllend, verbunden und wohlhabend sein könnte, löst in mir nicht nur Vorfreude aus, sondern auch ein tiefes Gefühl der Unwürdigkeit. Als ob ich für so viel Glück nicht bereit wäre. Als ob ich es nicht verdient hätte. Kennst du das auch?

Warum löst Gutes manchmal Angst aus?
Meine Therapeutin hat mir erklärt, warum manche von uns so reagieren, und ihre Erklärung hat für mich vieles ins Licht gerückt:
Unser Verstand entwirft Weltuntergangsszenarien als Schutzmechanismus. Diese Reaktion ist typisch für Menschen, deren Leben als Kind von Unbeständigkeit geprägt war. Wenn Freude, Sicherheit oder Zuneigung in der Kindheit unzuverlässig waren – mal da, mal wieder weg – lernt das Nervensystem, dieser Stabilität nicht zu vertrauen.
Das Katastrophisieren oder die innere Weltuntergangsstimmung bei positiven Ereignissen ist oft eine direkte Reaktion auf ein Trauma, meist aus der Kindheit. Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, in der Glück nicht von Dauer ist. Und so bereitet sich unser System automatisch auf den vermeintlich unvermeidlichen Fall vor, dass alles wieder zusammenbricht.
Es ist, als würde unser Nervensystem sagen: "Ich kenne diesen Zustand nicht. Hier ist es zu friedlich, zu schön, zu gut. Das kann nicht richtig sein. Es muss eine Falle sein."
Die Erfahrung der unbeständigen Stabilität
Für viele von uns, die in instabilen emotionalen Umgebungen aufgewachsen sind, wurde Unbeständigkeit paradoxerweise zur Konstante. Wir lernten, in der Unsicherheit eine gewisse Sicherheit zu finden. Wir wussten: Nach dem Hoch kommt immer ein Tief. Diese Vorhersehbarkeit gab uns eine Art von Kontrolle in einer ansonsten unkontrollierbaren Situation.
Wenn plötzlich etwas konstant gut ist, wie die freundlichen Kolleginnen der Frau aus der Yoga-Gruppe, gerät unser System in Alarmbereitschaft. Es fühlt sich falsch an, weil es nicht zu unserem gelernten Muster passt. Unser Körper und Geist sagen uns: "Das kann nicht echt sein. Warte nur ab, bald wird sich zeigen, was wirklich dahintersteckt."
Diese Reaktion ist kein Zeichen von Undankbarkeit oder Pessimismus. Es ist eine Überlebensstrategie, die aus einer Zeit stammt, als sie notwendig war.
Wie das Nervensystem reagiert
Auf neurologischer Ebene geht es um unsere Fähigkeit zur Selbstregulation. Unser autonomes Nervensystem hat verschiedene Zustände: Entspannung, Kampf-oder-Flucht und Erstarrung.
Menschen mit traumatischen Erfahrungen pendeln oft zwischen Kampf-Flucht und Erstarrung. Der Zustand der entspannten Verbundenheit – in dem wir Freude, Intimität und Sicherheit voll erleben können – fühlt sich fremd und potenziell bedrohlich an.
Wenn etwas Gutes passiert, interpretiert unser Nervensystem dies als potenzielle Gefahr, weil es an diesen Zustand nicht gewöhnt ist. Es bereitet sich auf das vermeintlich Unvermeidliche vor: den Zusammenbruch, die Enttäuschung, den Verrat. Es will uns beschützen, indem es uns vorbereitet.
Praktische Schritte zur Besserung
Wenn du dich in diesen Worten wiedererkennst, möchte ich dir sagen: Du bist nicht allein. Es ist nichts "falsch" mit dir. Dein Körper und Geist reagieren genau so, wie sie gelernt haben zu reagieren, um dich zu schützen.
Hier sind einige Tipps, die mir geholfen haben, mein Nervensystem neu zu trainieren:
1. Bewusstsein schaffen
Der erste Schritt ist, diese Reaktion zu erkennen, wenn sie auftritt. Benenne sie: "Ah, da ist meine Angst vor dem Guten wieder." Allein diese Benennung kann die automatische Stressreaktion verringern.
2. Körperliche Verankerung
Wenn die Angst vor dem Guten auftaucht:
Spüre deine Füße auf dem Boden
Atme tief in den Bauch
Lege eine Hand auf dein Herz
Sage zu dir selbst: "Ich bin hier. Ich bin sicher. Es ist in Ordnung, diesen Moment zu genießen."
3. Kleine Dosen Glück
Beginne damit, dich in kleinen, “überschaubaren Mengen” an das Gute zu gewöhnen. Erlaube dir fünf Minuten bewusste Freude. Dann zehn. Dann eine Stunde. Trainiere deinen Körper langsam, dass Gutes auch bleiben kann.
4. Die Vergangenheit würdigen
Erkenne an, dass deine Reaktion einmal sinnvoll war. Danke diesem Teil von dir: "Ich verstehe, dass du mich beschützen willst. Danke. Aber in diesem Moment bin ich sicher, und ich möchte dieses Glück erleben."
5. Neue Glaubenssätze entwickeln
Arbeite bewusst an neuen Überzeugungen:
"Ich darf glücklich sein."
"Gute Dinge dürfen in meinem Leben Bestand haben."
"Ich bin es wert, Freude zu erleben."
"Ich kann dem Guten vertrauen."
Wiederhole diese Sätze täglich, auch wenn sie sich zunächst fremd anfühlen.

Ein sanfter Weg nach vorne
Der Weg zu einem friedvollen Verhältnis mit dem Glück ist nicht linear. Es gibt Tage, an denen die alten Muster stärker sind als die neuen. Das ist völlig normal und Teil des Heilungsprozesses.
Was mir immer wieder hilft, ist die Erkenntnis, dass unsere Vergangenheit zwar erklärt, warum wir so reagieren, wie wir es tun, aber sie muss nicht unsere Zukunft bestimmen. Mit jedem Moment, in dem wir uns bewusst für die Annahme des Guten entscheiden, trainieren wir unser Nervensystem neu.
Ich lade dich ein: Erlaube dir heute, einen Moment des Glücks vollständig zu erleben. Ohne Wenn und Aber. Ohne auf die Katastrophe zu warten. Einfach nur sein und genießen.
Und wenn die Angst kommt – und sie wird kommen – atme tief ein und sage zu dir selbst: "Ich lerne, dem Guten zu vertrauen. Schritt für Schritt."
Du bist nicht allein auf diesem Weg. Und ja, du darfst glücklich sein – nicht trotz deiner Vergangenheit, sondern mit ihr.
Was sind deine Erfahrungen mit der Angst vor dem Guten? Magst du sie mit mir in den Kommentaren teilen? Schreibe mir gerne eine Nachricht.
Alle aktuellen Blogbeiträge, persönliche Einblicke und ehrliche Reflexionen findest du jetzt auf meinem Substack-Newsletter sacred inside.



Kommentare